Diese Meinungsartikel wurde zuerst in der Neue Zürcher Zeitung (NZZ) am 6. Juni 2023 und dann von der Website Zukunftsblog (erhältlich sowohl in Deutsch und in Englisch).
Gabriela Hug - Expertin für Stromübertragungsnetze - vertritt die Ansicht, dass die Sicherstellung einer bezahlbaren Energieversorgung aus erneuerbaren Quellen für die Schweiz keine Utopie ist, sondern eine praktische und machbare Notwendigkeit.
Um die schädlichen Auswirkungen der anthropogenen Erderwärmung einzudämmen, müssen wir den Ausstoß klimaschädlicher Gase so schnell wie möglich reduzieren und unvermeidbare Treibhausgase durch Technologien mit negativen Emissionen ausgleichen. Auf der Grundlage des wissenschaftlichen Konsenses hat sich die Schweizer Regierung im Einklang mit dem Pariser Abkommen verpflichtet, ihre Treibhausgasemissionen bis 2050 auf netto null zu reduzieren.1
Die bei weitem grösste Quelle dieser Emissionen in der Schweiz ist die Verbrennung von Erdöl und Erdgas in Gebäuden und die Verwendung von Benzin und Diesel im Verkehr. Hier sollten wir also unsere Anstrengungen konzentrieren. In beiden Bereichen gibt es bereits erprobte Lösungen, namentlich den Ersatz von fossilen Heizungen durch Wärmepumpen und Wärmenetze sowie die Elektrifizierung des Verkehrs, wo immer dies möglich ist.

Die alpine PV könnte - idealerweise in Kombination mit der bestehenden Infrastruktur - eine wichtige Rolle bei der Energiewende in der Schweiz spielen. Das Foto zeigt den Bau des AlpinSolar-Kraftwerks auf dem Muttsee-Stausee in Linthal im August 2021.
Die grosse Frage ist, ob es technisch und finanziell machbar ist, diese Massnahmen so umzusetzen, dass wir im Jahr 2050 eine nachhaltige, zuverlässige und bezahlbare Energieversorgung haben. Um diese Frage zu beantworten, haben sich 15 Energieexperten der ETH Zürich zusammengetan, um die Sicherheit der Schweizer Energieversorgung in einer Netto-Null-Zukunft auf der Basis aktueller wissenschaftlicher Erkenntnisse zu analysieren.
Machbar, aber herausfordernd
Die Schlussfolgerung unserer Bericht ist klar: Die Umstellung des schweizerischen Energiesystems auf ein Netto-Null-Niveau ist technisch machbar und kann zu vertretbaren Kosten erreicht werden (einigen Berechnungen zufolge möglicherweise sogar mit Kosteneinsparungen), sofern die Schweiz die Stromerzeugung aus erneuerbaren Energien rasch ausbaut und die Fähigkeit zum effizienten Stromhandel mit der EU beibehält.2 Die Elektrifizierung von Heizung und Verkehr kann und muss parallel zum Ausbau der erneuerbaren Energiequellen erfolgen.
Die Umsetzung dieser Strategie wird jedoch nicht einfach sein: Der Stromverbrauch wird im Laufe der Zeit aufgrund der Elektrifizierung des Gebäude- und Verkehrssektors erheblich zunehmen, wobei der Bedarf von derzeit 60 TWh auf mindestens 80 TWh steigen dürfte. Gleichzeitig werden jedoch Effizienzsteigerungen zu einem starken Rückgang der Gesamtenergienachfrage führen. Dies wird unter anderem dazu führen, dass die Abhängigkeit der Schweiz von Importen fossiler Energieträger sinkt.
Man darf nicht vergessen, dass selbst bei unverändertem Energiesystem der Schweiz in den kommenden Jahrzehnten noch erhebliche Investitionen erforderlich wären.
Eine weitere Herausforderung ist der Ersatz der Stromproduktion der heutigen Schweizer Kernkraftwerke, wobei eine rein praktische Lösung für dieses Dilemma in der Verlängerung ihrer Betriebsdauer besteht. Klar ist aber, dass wir stark in die inländische Stromproduktion investieren müssen, insbesondere durch die Installation von PV-Anlagen auf Gebäuden und idealerweise im Alpenraum sowie, wo möglich, durch den Ausbau der Wasserkraft. Auch zusätzliche Windkapazitäten wären hilfreich, vor allem in den Wintermonaten, wenn die Windkraftanlagen produktiver sind als im Sommer. Es ist wichtig, sich vor Augen zu halten, dass selbst bei einem unveränderten Energiesystem in der Schweiz in den kommenden Jahrzehnten noch erhebliche Investitionen erforderlich wären.
Einer der größten Vorteile des Stromhandels ist die Möglichkeit, Synergien zu nutzen: In Europa werden zahlreiche Windturbinen installiert, die in den Wintermonaten mehr Strom erzeugen, während die Schweiz über beträchtliche Wasserkraft- und Fotovoltaikkapazitäten verfügt, die im Sommer große Mengen Strom produzieren. Die Verfügbarkeit von Produktions- und Nutzungsdaten wird eine wichtige Rolle spielen, um intelligente Netzlösungen zu ermöglichen und die Netzstabilisierung zu fördern.
Energiehandel bleibt entscheidend
Die Schweiz muss nun praktische Kompromisse eingehen, wenn es darum geht, Landschaften und Artenvielfalt zu erhalten: Wir müssen nicht auf jedem Dach Sonnenkollektoren und an jedem verfügbaren Standort Windturbinen aufstellen, aber es braucht einen Kapazitätsausbau, der idealerweise von sozialen Überlegungen geleitet wird und auf unseren Erfahrungen mit Pilotanlagen beruht. Auch die Senkung des Endenergieverbrauchs ist ein wichtiges und sinnvolles Ziel, sei es durch bessere Dämmung und intelligentere Energienutzung in Gebäuden oder durch ein effizienteres Verkehrsmanagement und nachhaltigere Formen der Mobilität. Politik und Gesellschaft müssen diese Optionen diskutieren, um sicherzustellen, dass die beschlossenen Lösungen schnell in die Praxis umgesetzt werden.
Einige Herausforderungen liegen noch vor uns. So ist die Elektrifizierung in bestimmten Bereichen wie dem Langstrecken-Schwerlastverkehr und dem Luftverkehr, wo synthetische Kraftstoffe erforderlich sein dürften, nicht machbar. Die Schweiz wird diese Kraftstoffe in Zukunft wahrscheinlich größtenteils importieren müssen.
Darüber hinaus müssen saisonale Unterschiede in der Stromerzeugung ausgeglichen werden. Ermöglicht wird dies durch die saisonale Speicherung, sei es in Form von Wasserkraft, Wärme (wie z. B. die externe Seite anergy grid auf dem Campus Hönggerberg, der bereits in Betrieb ist) oder durch chemische Energieträger wie Wasserstoff und Biomethan sowie durch einen effizienten Stromhandel mit den Nachbarländern. Dies war auch in den vergangenen Jahrzehnten der Fall.
Den Wandel annehmen
Die Schweiz hat alles, was es für den Übergang zu einer nachhaltigen, sicheren und erschwinglichen Energieversorgung braucht: eine fortschrittliche Infrastruktur, Kapitalressourcen, weltweit führende Universitäten und traditionelles Handwerk. Letztlich braucht es jetzt den gesellschaftlichen und politischen Willen, diesen Übergang zu vollziehen.
Auch wenn die Ressourcen der einzelnen Länder unterschiedlich sind, so sind die Herausforderungen, vor denen wir stehen, weltweit oft ähnlich. Die Schweiz hat die einmalige Chance, ihre Innovationskraft nicht nur für die Energiewende im eigenen Land zu nutzen, sondern in Zukunft auch Technologien, Know-how und Erfahrungen nach Europa und in die Welt zu exportieren.
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OK Bedarfssteigerung von 60 auf 80 TWH = +20T WH scheint plausibel.
Wie viele dieser TWH werden aus PV, Wind und Importen stammen? Wie viele TWH aus PV und Wind sind in der Schweiz möglich?
Vielen Dank für diesen Kommentar, Sie haben ein sehr berechtigtes Anliegen. Wie Sie vielleicht bemerkt haben, basiert dieser Blogbeitrag auf dem White Paper "Versorgungssicherheit in einer Netto-Null-Energiezukunft für die Schweiz", das von der Expertengruppe Versorgungssicherheit der ETH Zürich veröffentlicht wurde. In diesem White Paper wurde eine Vielzahl von Forschungsergebnissen und Publikationen über das Energiesystem der Zukunft für die Schweiz analysiert. Alle Zahlen und Details sind dort zu finden:
https://esc.ethz.ch/expert-groups/security-of-supply.html
Aber es ist wichtig zu verstehen, dass dies alles Szenarien sind, keine Vorhersagen. Sie zeigen, dass ein Netto-Null-Energieversorgungssystem für die Schweiz möglich ist, aber es braucht den politischen Willen, es tatsächlich umzusetzen.
Ja, ein Netto-Null-Energieversorgungssystem ist zwar möglich, aber sehr knapp bemessen. Was ist, wenn die Nachfrage die Prognosen übersteigt oder keine Importe verfügbar sind? Mehr Gasturbinen? Wir sollten die Ironie nicht außer Acht lassen, dass die Netto-Null-Zukunft mit einer neuen 250-MW-Gasturbine beginnt. Es wäre eine Schande, mehr CO2 auszustoßen als heute, wo das Land mit Solarzellen und Windturbinen bedeckt ist.
Das Ziel muss es sein, zu Netto-Null zu kommen, das ist klar. Und die Emissionen werden in der Schweiz bereits reduziert. Aber es muss schneller gehen. Das geht nur mit einer raschen Elektrifizierung des Verkehrs- und Wärmesektors und einem raschen Ausbau der Schweizer Produktionskapazitäten. Die Gasturbinen in Birr wurden bisher (zum Glück) nicht benötigt und sind eine Reaktion auf die fehlenden Gasimporte in Europa und den Wegfall des Atomstroms in Frankreich. Dies zeigt noch deutlicher, dass wir unsere Abhängigkeit von importierten fossilen Energieträgern reduzieren, aber gleichzeitig die Kapazitäten erhöhen müssen. Der Austausch mit den Nachbarländern bleibt in jedem Szenario entscheidend.